Hilfe für Menschen mit Psychischen Erkrankungen und seelischen Behinderungen

Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute. Seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.

George Bernard Shaw

Zwänge

Einkaufen war wie das „Rausschleusen aus einem Hochsicherheitstrakt“

32-Jähriger Angstpatient erzählt von Zeiten, da er vier Seifenstücke am Tag verbrauchte
Von Kerstin Loehr

Wir sitzen im Konferenzraum in unserer Redaktion. Der 32-Jährige schaut auf die Tür, die knapp eineinhalb Meter von uns entfernt ist. Dann sagt er: „Es gab Zeiten, da hätte ich für den Weg bis zu dieser Tür Stunden gebraucht.“

Ingo U. ist Angstpatient. Leidet an einer Zwangsstörung. Wann die psychische Erkrankung bei ihm ausgebrochen ist, kann er nicht genau festlegen. „Das kam schleichend. Irgendwann so im Alter zwischen 17 und 20 Jahren.“

Ingo U. hat damals zu Hause bei seinen Eltern gewohnt. Er hat erst das Gymnasium besucht, Abitur gemacht, dann Zivildienst, wollte anschließend studieren. „IT“ – das lag ihm. Er erzählt: „Als Manager in einem großen Wirtschaftsunternehmen hatte ich mir meine Zukunft vorgestellt.“ Und nicht nur er, auch seine Eltern. 

Immer mehr zog er sich in seine vier Wände zurück

Doch der gerade Weg sollte seiner nicht sein. Ängste und Zwänge stellten sich ihm in den Weg. Ingo U. betont: „Angst hat ja irgendwie jeder mal im Leben. Aber ich fing an, sie immer übersteigerter wahrzunehmen.“ Zunächst gelang es ihm, die „Bewegungsabläufe“ in seinem Alltag weiter abzuspulen, ohne dass die Umgebung davon etwas merkte. „Sie glauben gar nicht, wieviel Kraft – und Zeit das kostet.“ Daher habe er sich immer mehr zurückgezogen, in seine kleine sichere Welt, die wenigen Quadratmeter seiner eigenen vier Wände.

An Autofahren war längst nicht mehr zu denken. Alles, was er sich für die Zukunft vorgenommen hatte, schien unerreichbar. Die Wohnung zu verlassen, um einzukaufen, beschreibt Ingo U. wie „das Rausschleusen aus einem Hochsicherheitstrakt“.

Mit dem kurzen Kontrollblick auf Herd oder Kaffeemaschine hat das nichts zu tun, hier geht es um Stunden. „Wenn ich dann wiederkam, hatte ich immer das Gefühl, mich reinigen zu müssen.“ In Höchstzeiten habe er pro Tag vier Seifenstücke verbraucht und Unmengen an Desinfektionsmitteln.

Auf ungläubiges Staunen hin erklärt Ingo U. „Dass das nicht gut war, wusste ich natürlich. Logik spielt dabei aber keine Rolle. Oder anders: ,Ich kann nicht‘ hat nichts mit ,ich will nicht‘ zu tun.“ Bald sei auch noch die Angst vor der Angst dazu gekommen. Totale Machtlosigkeit der eigenen Person gegenüber. Der Betroffene sagt: „All das, was man sich für die Zukunft vorgenommen hat, scheint plötzlich unerreichbar.“

Im Durchschnitt brauchen Menschen, die an einer Angst- und Zwangsstörung leiden, 17 Jahre bis zu ihrem ersten Arztkontakt, weiß Ingo U. Bei ihm ging es etwas schneller. „Zunächst schämt man sich natürlich. Weiß nicht, wohin man sich wenden soll. Fängt an, in Semi-Fachliteratur und im Internet zu suchen.“ Er hatte Glück. „Ich habe jemanden gefunden, der mir einen guten Arzt empfohlen hat.“

Am Anfang stand ein stationärer Aufenthalt – und das war auch gut so, sagt Ingo U. „Für mich ist das fast wie Fitnesstraining. Wenig hilft wenig.“ Doch Ängste und Zwänge gingen irgendwann getrennte Wege, diese Erfahrung hat er während der Therapie gemacht. „Die Angst war nach dem Klinik-Aufenthalt weitgehend weg, das heißt, ich konnte zunächst wieder einigermaßen den Alltag bewältigen.“ Die Kontrollzwänge aber gab es weiter – und damit die Unfähigkeit, mit dem normalen Lebensrisiko umzugehen.

Lernen, das normale Lebensrisiko auszuhalten

Genau darin liegt ein Kern seiner psychischen Erkrankung, dem Ingo U. bis heute in ambulanter Verhaltenstherapie und mit Hilfe des sozialpsychiatrischen Dienstes auf den Grund zu gehen versucht. „Dieses normale Lebensrisiko auszuhalten und damit auch die Verantwortung für sein eigenes Leben zu tragen, habe ich im heranwachsenden Alter nicht gelernt.“ Eine Erkenntnis, die auch das Verhältnis zu seinen Eltern bis heute prägt. Und belastet. Vor sechs Jahren ist er zu Hause ausgezogen. Finanziell unterstützen sie ihn jedoch bis heute.

Die eineinhalb Meter zur Tür in unserem Konferenzraum sind heute kein Problem mehr. Auch Auto fährt Ingo U. seit einigen Monaten wieder. Die Wohnung zu verlassen koste zwar noch Mühe, aber die zehn Minuten, die er brauche, um alles zu kontrollieren, seien erträglich. Er hat sich an kleine Fortschritte gewöhnt: „Immer mehr wird möglich.“ 

Sogar beruflich ist der Mann dabei, wieder Fuß zu fassen – allerdings weit weg von der IT-Branche im sozialen Bereich. Ein Jahr lang hat er eine Ausbildung zum „Experten aus Erfahrung“ an der Uniklinik in Hamburg-Eppendorf absolviert: „Ex – In“. Bei dem ursprünglich von der EU geförderten Projekt lernen Psychiatrie-Erfahrene, andere Betroffene zu beraten und zu begleiten.

Die chinesische Weisheit, die dahinter steht, lautet: „Willst du etwas wissen, frage Erfahrene, nicht Gelehrte.“ Ingo U. sagt es praktisch: „Ich weiß, wie es sich anfühlt, psychisch krank zu sein. Ich weiß, wie Medikamente mit all ihren Nebenwirkungen belasten. Und ich kenne das Gefühl, emotional leer zu sein.“

Peiner Nachrichten
Donnerstag, 24.12.2009
Quelle: www.newsclick.de

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Start: Dienstag, 09.04.24, 17.00 Uhr

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