Hilfe für Menschen mit Psychischen Erkrankungen und seelischen Behinderungen

...Man muss Geduld haben für das Ungelöste im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind...

Rainer Maria Rilke

Der Leidensweg der Dorothea Buck

Eine 94-jährige Bildhauerin wirbt für mehr Menschlichkeit in der Psychiatrie
Von Hagen Jung

Viel mehr Gespräche mit den Patienten, Medikamente nur, wenn sie unumgänglich sind, und vor allem mehr Menschlichkeit in der Psychiatrie: Dafür plädierte die 94-jährige Bildhauerin und Buchautorin Dorothea Buck jüngst im niedersächsischen Lüchow. Die Mitbegründerin des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener, die wegen ihrer früheren Psychose grauenvolle Behandlungen hinter sich hat, muntert heute Patienten dazu auf, Missstände in der Psychiatrie nicht mehr hinzunehmen.
»Mein Sohn ist in einer psychiatrischen Klinik zehn Tage lang ans Bett fixiert worden«, berichtete eine Mutter während des von rund 200 Menschen besuchten Diskussionsabends. Dazu eingeladen hatte der Verein »Wendlandbrücke«. Er kümmert sich um psychisch belastete Menschen in Lüchow-Dannenberg. Der Hinweis auf das Anschnallen des jungen Mannes und weitere Berichte von Patienten, die sich eher verwahrt als behandelt gefühlt hatten, unterstrichen die Mahnung der Referentin: Noch immer werde in der Psychiatrie zu viel Zwang angewendet, noch immer würde zu wenig mit den Patienten über deren Lebensgeschichte und einschneidende Erlebnisse gesprochen. Und noch immer gebe es eine teils langfristige und hoch dosierte Medikation nach dem Motto: »Hauptsache, der ist still und pflegeleicht.«

Schizophrene Schübe

Wer die betagte Dame im Rollstuhl erlebte, ihre wachen, freundlichen Augen, ihre Eloquenz, ihre lebhafte Teilnahme an der Diskussion und ihre Geduld im Dialog mit Besuchern, der konnte es kaum nachvollziehen, dass sie einmal zu den »Verblödeten« gezählt wurde. So nämlich, sagt Dorothea Buck, wurden Psychotiker, wurden Schizophrene einst bezeichnet.

Ehe die Bildhauerin aus ihrem Leben erzählte, vermittelte der Film »Himmel und mehr« von Alexandra Pohlmeier die erschütternde Vita Dorothea Bucks, die 1917 in Naumburg geboren wurde. Dorothea, Tochter des dortigen Dompredigers, bekam mit 19 Jahren ihren ersten von insgesamt fünf in der Zeit von 1936 bis 1959 erlittenen schizophrenen Schüben. Sehr offen, sehr detailliert legte sie dar, welche Gedanken sie ergriffen: Sie wollte »Braut Christi« werden und ahnte, ein schlimmer Krieg werde kommen. Mit ihren Eltern ging Dorothea zu einem vertrauten Arzt, dem sie vorschlug: Sie wolle mit ihm nach Berlin fahren, um Hitler vor dem Krieg zu warnen. »Schizophrenie«, so lautetet der Befund des Mediziners.

Mittlerweile nach Wangerooge verzogen, wurde Dorothea von einem neuen Schub ihrer Krankheit ergriffen, kroch im Watt herum, wurde als vermisst Gemeldete von SA-Männern gefunden. Verdacht auf Selbsttötungsversuch, hieß es, und wiederum kam sie in die geschlossene Psychiatrie.

Statt eines ersten Gesprächs aber habe man sie in der Klinik sogleich mit einem Betäubungsmittel empfangen, berichtete Dorothea Buck. Und die Gitter vor den Fenstern vermittelten ihr den Eindruck: »Hier wird dir nicht geholfen, hier bist du eingesperrt.«

Die Hölle von Bethel

»Das schlimmste, was ich im Laufe meiner Klinikaufenthalte erlebt habe, war in Bethel«, erinnert sich die alte Dame. Offenbar hatte sie nur Gutes von der dortigen Psychiatrie erwartet, rühmten sich doch die Bodelschwinghschen Anstalten, vom hoch verehrten Pastor Friedrich von Bodelschwingh (1831 – 1910) gegründet, christlich orientierten Handelns.

Dorothea Buck weiß noch, was an einer Wand dort zu lesen war – das Jesus zugeschriebene Wort »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!« Doch statt der Liebe Gottes, die nach christlichem Verständnis in Jesus menschliche Gestalt angenommen hat, erlebte die »Beladene« eine höllische »Behandlung«: So gut wie keine Gespräche, stattdessen ein 23-stündiges Dauerbad in einer Wanne, deren »Abdeckplane« nur den Kopf durch ein enges Loch herausgucken ließ.

»Ich musste an die Halskrause eines Prangers denken«, so Buck. Hinzu kam die Kaltwassertherapie: Die junge Frau wurde eng in nasse Tücher gewickelt – zur »Beruhigung«. Gewiss sei sie danach ruhig gewesen, sagte die 94-Jährige, aber nur aus Angst, »dass sich alles wiederholt«.

Das Teuflischste in Bethel aber kam noch. Man log Dorothea vor, ihre Mutter warte im Besuchszimmer. Doch stattdessen war in jenem Raum eine Kommission. Sie stellte der Patientin »diagnostische Fragen«, um herauszufinden, ob sie aufgrund des Erbgesundheitsgesetzes der Nazis sterilisiert werden müsse. Niemand informierte Dorothea über das Bevorstehende. »Ein kleiner Eingriff sei nötig«, hieß es vom erneut lügenden Klinikpersonal. Erst von Mitpatienten erfuhr sie – inzwischen operiert – die schreckliche Wahrheit.

Im Bewusstsein des Geschehenen empfand sich Dorothea Buck als minderwertig, entwickelte Selbsttötungsabsichten. Erst die Möglichkeit, das Töpfern zu erlernen, ließ sie 1937 wieder Lebensmut gewinnen. Sie bestand die Aufnahmeprüfung zur Ausbildung an einer Kunsthochschule; das Ziel: Bildhauerin werden.

Wieder folgte ein Krankheitsschub, wieder eine Behandlung, diesmal mit einer »Insulin-Kur« in der Uni-Klinik von Frankfurt am Main. Dorotheas Bettnachbarin, die durch die gleiche Anwendung nicht ruhig gestellt werden konnte, wurde für unheilbar erklärt und in eines der »Hungerhäuser« verlegt. In diesen Vernichtungsstätten ließ das NS-Regime die Patienten bewusst so unter Mangelernährung setzen, dass sie bald starben.

Nach Kriegsende gelangte Dorothea Buck unter anderem nach Hamburg, wo ihr nach einem psychotischen Schub erneut Schlimmes widerfuhr: Sie bekam so starke Medikamente zur Ruhigstellung, dass sie vor Schwäche umfiel. Doch die lebensmutige Frau gab nicht auf, widmete sich weiter der Bildhauerei, und im Rahmen ihres künstlerischen Schaffens mag das geschehen sein, was jenem Film über ihr Leben den Untertitel gab: »… die sich selbst von der Schizophrenie geheilt hat«.

Großes Verdienstkreuz

Von 1969 bis 1982 war Dorothea Buck Lehrerin für Kunst an der Fachschule für Sozialpädagogik in Hamburg, arbeitete auch im eigenen Atelier, schrieb Bücher, engagierte sich für mehr Menschlichkeit in der Psychiatrie. Im Jahre 1997 wurde sie dafür mit dem Bundesverdienstkreuz, 2008 mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik ausgezeichnet. Dorothea Buck gehört mit zu den Initiatoren des sogenannten Trialogs: ein System, bei dem Patienten, Angehörige und Psychiatrie-Personal in Verbindung kommen und Erfahrungen austauschen. Ziel ist es, die Sprachlosigkeit, die in puncto psychische Erkrankungen oft herrscht, zu überwinden.

Wer sich heutzutage in der Psychiatrie schlecht behandelt fühle, so riet Dorothea Buck, solle Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen entgegensetzen. Nicht wirkungslos sei es auch, wenn die Betroffenen oder ihre Angehörigen die Krankenkasse oder das Gesundheitsamt über die Missstände informieren. Ein offenes Ohr dafür habe auch der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener. Dort gebe es Informationen über Alternativen zu jener Psychiatrie, die zu einem Großteil immer noch »biologistisch« ausgerichtet sei, sich aber zu wenig Zeit nehme für den Menschen und seine Lebensgeschichte.

Informationen des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener im Internet unter:
www.bpe-online.de[1] 

Neues Deutschland, 01.07.2011 / Inland / Seite 14

Termine und Veranstaltungen

Start: Dienstag, 09.04.24, 17.00 Uhr

Psychoedukation bei Depression

Kurs über 5 Abende.
Kosten: Kostenlos.
Anmeldung erforderlich.
Weitere Informationen hier.

Mittwochs, 14tägig,  17.00 Uhr
in der arCus-Kontaktstelle

Mit Selbstvertrauen geht alles besser

Selbsthilfeprojekt für junge Menschen in Kooperation mit der KISS
(Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe des Paritätischen Peine)

Die Stärkung von Selbstvertrauen, Motivation, sozialer Kompetenz, Kommunikationsfähigkeit und anderer wichtiger Eigenschaften steht im Mittelpunkt des Projektes, das die Kontaktstelle für Selbsthilfe des Paritätischen (KISS) und die arCus-Kontaktstelle gemeinsam anbieten.
Weitere Informationen dazu gibt es im Flyer, der hier heruntergeladen werden kann:

Mit Selbstvertrauen geht alles besser

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